Alice Miller, die Grande Dame der Erforschung der „Schwarzen Pädagogik“, hat Jahrzehnte daran gewirkt den Menschen die Augen für ihre Kindheit und deren Erfahrungen zu öffnen. Dafür, wie die frühkindlichen Erfahrungen das Leben beeinflussen und wie unsere ganze Gesellschaft seit jeher krank ist, ohne, dass dies allzu sehr aufgefallen wäre. Anstatt Stellung für das Kind zu beziehen, wurden und werden Erwachsene und das System geschützt, wird „Erziehung“ anstatt, Entfaltung und Förderung des Kindes propagiert.
Das Böse war seit jeher erschreckend und doch anziehend zugleich. Woher kommt es? Wie ist es entstanden? Viele Erklärungen wurden im Laufe der Jahrhunderte dafür gefunden, alle aber gipfelten darin, dass das Böse Teil der menschlichen Natur selbst sei. Im Christentum kennt man diese unter „Erbsünde“. Selbst heute noch scheinen die meisten darin überein zu stimmen, dass das Böse eben nicht vermeidbar sei, notwendig zum Menschen, wenn nicht gar zum ganzen Universum dazu gehörte und das beste, was man tun könne, lernen damit umzugehen sei. An eine „Abschaffung“ oder „Auflösung“ des Bösen zu glauben, halten die meisten für utopisch, ja für geradezu verrückt. Die alte Ansicht, das Böse sei mit der menschlichen Natur untrennbar verbunden, hat fatale Auswirkungen auf die Erziehung von Kindern, für das Menschenbild im Allgemeinen und mehr noch auf die Gesundheit der ganzen Spezies. Wenn das Böse nicht beseitigt werden kann, dann gibt es in Wahrheit keine Hoffnung auf eine „gute Welt“, zumindest im Diesseits nicht. Dann müssen die Hoffnungen auf ein Jenseits projiziert werden, wo eine höhere Macht dann das Böse besiegen würde und „alles wieder in Ordnung“ brächte. Diese Ansicht nimmt dem Menschen die Hoffnung und wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wenn wir weiterhin so denken, dann kann es eine „gute“ oder auch nur bessere Welt überhaupt nie geben – es ist ein hoffnungsloser Zustand und wer wollte seine Energie dafür verschwenden? Es bleibt zu hoffen, dass dieser Irrtum eingesehen wird und zukünftige Generationen zurecht nur den Kopf schütteln werden über die Barbarei ihrer Vorfahren und deren beschränkte Weltsicht, die aus Irrtümern geflochten war. Wo beginnen diese Irrtümer? In der Kindheit! Dort hat auch das Böse seinen Ursprung. Alice Miller hat es schon lange herausgefunden: Das Böse kommt nicht einfach in die Welt und es ist schon gar nicht angeboren. Es existiert nur deshalb, weil wir unsere Kinder wider ihre Natur formen, sie erziehen (wie ich das Wort „Erziehung“ hasse!) und so dass Böse als Ergebnis von Unterdrückung und Verwirrung, von Generation zu Generation weiter geben! Das Böse ist eine Möglichkeit für den Menschen, aber kein Zwang, er hat das Potenzial böse zu handeln, aber ebenso Gutes zu tun. Das Böse existiert nur deshalb, weil es in jeder neuen Generation herangezüchtet wird! Und das ganze größtenteils unbewusst, so dass Eltern allen Ernstes davon überzeugt sind, nur „das Beste“ für ihre Kinder zu wollen und zu tun. So herrscht eine völlig falsche Vorstellung von „Liebe“ vor. Was in unserer Gesellschaft als solches bezeichnet wird, ist reine Manipulation, Dressur, Korruption, eine „Habensliebe“ keine echte „Seinsliebe“!
Das Gemeine an der Erziehung ist, dass sie an einem unschuldigen Wesen vollzogen wird, das noch viel zu klein ist, um sich dagegen zu wehren und auch noch nicht das Bewusstsein entwickelt hat zu erkennen, was mit ihm geschieht. Ist das Kind einmal erzogen, sprich zu einem „artigen“ Kind geworden, dann erinnert es sich an nichts und es sieht so aus, als ob dies seiner Natur entspräche. Doch ist Erziehung in der Regel nichts anderes, als das Kind für die Welt und die Eltern gefügig und angepasst zu machen. Auch heute herrscht noch die Ansicht vor, dass ein Kind nicht von sich aus wohl geraten sein könne, man seinen Willen brechen müsse. Freilich drückt man es nicht mehr derart drastisch aus. In früheren Zeiten tat man dies offen. Doch noch immer ist man überzeugt, dass ein Kind Zurechtweisung bräuchte und dass der Wille und die Bedürfnisse der Erwachsenen in höherem Rang stünden, als der des Kindes. Kinder und alles Kindliche stehen nicht hoch im Kurs in der Gesellschaft. So ist es für einen Erwachsenen eine Beleidigung als „Kind“ oder „kindisch“ bezeichnet zu werden. Für ein Kind jedoch stellt es ein Lob dar, wenn es als „erwachsen“ oder „reif“ bezeichnet wird. Freilich hat sich die Gewalt heute von der vornehmlich körperlichen Eben auf die seelische Ebene verlagert. Und die Kinder leiden noch mehr darunter, als die Menschen schlechthin. Nie hat es eine Gesellschaft gegeben, die die Natürlichkeit, die Spontaneität wirklich schätzte. Ja es ist geradezu Aufgabe jeder Gemeinschaft, jedes Gesellschaftsvertragen, diese beim Individuum zu unterdrücken und es nach den allgemeinen Vorstellungen zu formen. Es heißt „lieb“ und „zivilisiert“ sein, „angepasst“ und nicht „authentisch“, „ehrlich“ und „man selbst“. Wenn eine Mutter sagt ihr Kind sei „es selbst“ oder etwas „entspräche seinem Wesen“, dann meint sie gewöhnlich, dass das Kind sich jetzt so verhält wie sie es erzogen hat, wie sie es für richtig hält. Dann ist es ein „braves“ Kind.
Alice Miller nannte die traditionelle Erziehung, die Gewalt (in physischer und psychischer Form) anwendet und auch heute noch die vorherrschende Art der Erziehung ist, „schwarze Pädagogik“. Hauptsächliches Ziel dieser Pädagogik ist es falsche Informationen weiterzugeben und eine kranke Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Eric Berne hat darauf hingewiesen, dass Erziehung im Wesentlichen darin besteht Kindern beizubringen, welche Spiele (sprich soziale Schwindel) sie im Leben spielen sollen. Das Kind lernt die Rollen, die es spielen soll, wie es denken soll, was es empfinden soll. Das alles führt zu einer Verwirrung, die das ganze Leben lang anhält. Solche fatalen Ketten von Generation zu Generation werden nur selten durchbrochen, entweder durch ein fundamentales Ereignis im Leben (z.B. Krieg, persönliche Katastrophe), oder am häufigsten durch Therapie oder, was der seltenste Fall ist, durch einen autonomen Entschluss des Individuum (das geht aber nur, wenn das Kind, als es noch autonom war, selbst diese Möglichkeit für sein späteres Leben vorgesehen hat). Die wahren Gefühle des Kindes dürfen nicht ausgedrückt werden, oder nur in dem Rahmen, wie die Eltern es gestatten. Jede Familie hat „erwünschte“ und „unerwünschte“ Gefühle und das Kind lernt sehr früh die einen auszudrücken und die anderen zu unterdrücken, bis dieses Verhalten ganz natürlich wirkt und es sich kein anderes Leben mehr vorstellen kann. So gibt es Familien in denen Freude ausgedrückt werden darf, aber keinen Hass (Hass ist ein ganz normales und gesundes menschliches Gefühl, Hass hat noch nie jemanden getötet und es sollte niemals unterbunden werden, weder beim Kind, noch beim Erwachsenen). Sehr häufig ist auch das Familiegebot, bei dem zwar Sex erlaubt, aber Liebe verboten ist.
Die schwarze Pädagogik zeichne sich aus durch (A. Miller in „Am Anfang war Erziehung“):
1.) Die Erwachsenen sind die Herren der abhängigen Kinder
2.) Sie alleine bestimmen was richtig und falsch ist
3.) Das Kind wird für die Wut der Erwachsenen verantwortlich gemacht
4.) Die Eltern müssen immer geschützt werden
5.) Die Lebendigkeit des Kindes bedeutet eine Gefahr für den autokratischen Erwachsenen
6.) Der Wille des Kindes muss so früh als möglich gebrochen werden.
7.) Das alles muss so früh geschehen, dass das Kind sich nicht mehr erinnern kann und die Erwachsenen nicht als Urheber ausfindig machen kann.
Falsche Informationen, die durch die schwarze Pädagogik weiter gegeben werden, sind (A. Miller in „Am Anfang war Erziehung“):
1.) Pflichtgefühl erzeugt Liebe
2.) Hass verschwindet, indem man ihn verbietet
3.) Eltern verdienen Respekt, einfach weil sie Eltern sind
4.) Kinder verdienen keinen Respekt, weil sie Kinder sind
5.) Gehorsam macht Kinder stark
6.) Hohes Selbstbewusstsein ist schädlich
7.) Niederes Selbstwertgefühl macht einen altruistisch
8.) Zärtlichkeit ist schädlich
9.) Auf die Bedürfnisse eines Kindes einzugehen ist falsch
10.) Härte und Kälte sind gut für die Vorbereitung auf das Leben
11.) Gespielte Dankbarkeit ist besser als ehrliche Undankbarkeit
12.) Wie du dich verhältst ist wichtiger, als wie du wirklich bist
13.) Weder die Eltern noch Gott würden überleben, wenn sie angegriffen werden
14.) Der Körper ist schmutzig und grauslich
15.) Starke Gefühle sind schädlich
16.) Eltern sind Kreaturen, die frei von Trieben und Schuld sind
17.) Die Eltern haben immer Recht
Die Schwierigkeiten, die Menschen in ihrem Leben plagen in der Kindheit zu suchen ist schon lange nichts Neues mehr. Doch dabei hat man immer die Eltern geschont. Die Verantwortung wurde mehr beim Kind selbst gesucht, bei seinen angeblichen „schlechten Anlagen“, der „wilden Natur“ und dergleichen. Alfred Adler vertrat noch das Konzept, dass Neurosen und Fehlleistungen aller Art am meisten auf die „Verzärtelung“ des Kindes zurückgingen. Das Verwöhnen von Kindern über die Maßen, sah er als Grundübel an. Dabei kann die Liebe zu einem Kind niemals groß genug sein, niemand kann zu viel Liebe bekommen und deshalb später einmal neurotisch werden, das ist völliger Unsinn. Was aber stimmt ist, dass hinter dem, was „Zärtlichkeit“ genannt wird eine subtile Form der Dominanz, der Herrschaftsausübung und Erziehung zur Unselbständigkeit stecken kann. Das ist aber alles Andere als Liebe. Nicht die Bedürfnisse des Kindes stehen im Vordergrund, sondern die der Eltern. Das Kind soll den Eltern etwas geben, anstatt etwas zu empfangen. Neurosen sind gerade bei Müttern, die selbst viel in ihrer Kindheit entbehren mussten, häufig. Einen fehlerhafte Muttertyp erkennt man als erdrückende Mutter oder als „Glucke“, die ihre „Küken“ unter ihrem Flügeln nicht groß und erwachsen werden lässt.
Dieser Artikel stelle einen ersten Einstieg in das große Thema Pädagogik, ihre Psychologie und Kinder dar, mit dem ich mich in nächster Zeit intensiver beschäftigen werde und hier auf dieser Seite darüber Bericht erstatten werde. Hier nur soviel: Wer glaubt eine „gute“ Kindheit gehabt zu haben, unterliegt damit aller Wahrscheinlichkeit nach einem Irrtum. Gerade dieses Thema sollte intensiv hinterfragt werden, ohne irgendjemanden zu schonen. Man erweist sich selbst und den Eltern keinen angenehmen Dienst wenn man dies tut. Aber mit Sicherheit werden die eigenen Kinder darunter leiden, wenn man eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner eigenen Kindheit scheut.
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