Donnerstag, 29. Dezember 2011

Braucht der Mensch die anderen?

„Ich gehe an ein Werk, das kein Vorbild hat und keinen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeichnen, und dieser Menschen – bin ich“. Mit diesen starken Worten beschreibt der große Philosoph und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau sein Bestreben, so wie er es in seinen „Confessions“ niedergeschrieben hat.


Rousseau ist eine besondere Gestalt, um nicht zu sagen eine Lichtgestalt unter den Denkern des 18. Jahrhunderts und weit darüber hinaus. Im Ergebnis wirkt er um vieles stärker, als die kühlen Rationalisten und Enzyklopedisten, die durch intellektuellen Hochmut und die Verehrung und Förderung der Kultur glaubten einen Gipfel der Menschheit erreicht zu haben. Gerade das Gegenteil war der Fall und Rousseau hat es schonungslos aufgezeigt. Kultur verdirbt die Seele des Menschen, macht neurotisch und psychotisch. Ohne Kultur hätte die Menschheit keine seelischen Probleme, es der Preis der Kultur, dass der einzelne an der Psyche angegriffen und verdorben wird. Rousseaus „Gefühl“ sein Enthusiasmus und sein unglaubliches Genie brachten ihn zu seinem großartigen Werk. Während Descartes vom „Cogito-Ergo-Sum“ sprach hört sich dies bei Rousseau ganz anders an: „Je suis, je sens“. Welche Kraft liegt doch in den Worten des religiösen Genfers, der zugegeben eine Menge an Widersprüchen in seinem Charakter vereinte – etwas das bei großen Persönlichkeiten immer der Fall ist. Trifft man auf einen stimmigen, abgerundeten Charakter, dann hat man es immer auch mit einer höchst mittelmäßigen Person zu tun. Wer will schon in Ruhe leben? Wer möchte Harmonie wirklich? Harmonie ist wie der Tod, hat man sie, dann lebt man nicht mehr! Das Chaos im Leben ist höchst wünschenswert, es fördert den Menschen und den Fortschritt, ebenso die Unzufriedenheit. Die Unzufriedenheit ist eine Tugend! Wären die Menschen zufrieden, dann müsste man sich ernsthaft Sorgen um sie machen. Wer zu Zufriedenheit rät, der ist ein kleiner Geist!

Zurück zu Rousseau und dem 18. Jahrhundert. Rousseau war ein Individualist, einer, der die Natur des Menschen als gut und die Kultur als Verbrechen sah. Damit sprach er Millionen Menschen an, die es genauso sahen. Bis heute wirken die frischen Worte nach und vermögen die Seele immer noch anzusprechen. Es wäre vermessen wollte man darin einfach nur eine Unzufriedenheit mit der damals herrschenden Kultur verstehen. Vielmehr geht es Rousseau um die Kultur ans sich. Im 19. Jahrhundert drehte sich das Weltbild gewaltig, denn nun sah man die Kultur als gut und den Einzelnen als schlecht. Man ging davon aus, dass die Kultur nun notwendig sei, um die Triebe des einzelnen zu zügeln – das Misstrauen gegenüber dem Menschen blieb ins 20. Jahrhundert hinein aufrecht und wirkt bis heute nach. Wie viel freier ist doch der Mensch bei Rousseau und wie gut in seinem Naturzustand! Erst die Gemeinschaft macht den Menschen schlecht und lebten wir in einer perfekten Welt, dann würden wird den Kontakt mit anderen überhaupt nicht suchen. Wir würden mit anderen Menschen nicht sprechen, wir würden uns nicht um sie kümmern. Nur das Übel der Welt, wie sie sich durch all ihre Gefahren uns darstellt, zwingt die Menschen zu Kooperation. Im Grunde ist das Zusammenwirken der Menschen keine gute Sache, lediglich ein notwendiges Übel. Bräuchten wir die anderen nicht, dann wären wir frei aus uns selbst heraus zu leben, unabhängig (denn was ist Freiheit anderes als das Nicht-Verbundensein?).


Heute ist die Zeit immer noch sehr verblendet und die Ansicht der Mensch sei ein soziales Wesen ist sehr verführerisch – kaum einer widerspricht ihr. Dabei spricht vieles dafür, dass Rousseau und nicht die moderne Ansicht der Wahrheit entspricht. Meine Antwort auf die Frage, die den Titel dieses Beitrags bildet, ist eindeutig Nein! Der Mensch braucht die anderen an sich nicht, lediglich Notwendigkeiten, die sich aus den Lebensumständen heraus ergeben führen zu Zwangskooperation. Für das seelische Wohlbefinden jedoch ist der Mitmensch, den man besser Nebenmensch nennen sollte, mit Sicherheit nachteilig. Mit seinem Geist und seinen Gedanken und Gefühlen alleine, erübrigen sich die fruchtlosen Streitereien, die Reibungen, die sich durch das bloße Zusammentreffen von Menschen ergeben. Konflikt an sich ist noch nichts Schlechtes, doch in der Praxis führt er nur selten zu einer Weiterentwicklung, sondern zu Grabenkämpfen, seelischem Unwohlsein, das einen dann über längere Zeit hinweg nicht mehr verlässt.


In gewisser Weise ist das Leben jedoch selbst eine Beleidigung für den Menschen. Man denke nur daran, dass ein Homo sapiens, Nahrung, Sauerstoff etc. braucht, nur um körperlich am Leben zu bleiben. Für einen extrem freiheitsliebenden Menschen ist bereits die Notwendigkeit Sauerstoff zum Leben zu brauchen eine Beleidigung und eine Quelle des permanenten Unglücks. So gesehen ist es nur natürlich, wenn sich die Abneigung gegen das Leben selbst richtet, zumindest in der Form, wie wir es in unserem Universum vorfinden.

„Der Mensch is guad, nur de Leit san a Gsindl!“ Mit diesem Nestroy-Zitat ist nicht nur Rousseau gut zusammengefasst, sondern ein wahres Wort gesprochen, dass heute so wahr ist, wie es immer war und auch immer sein wird.