Sonntag, 16. Mai 2010

Reifer Glaube

Die spirituelle Reife des Menschen entwickelt sich in der Regel viel langsamer, als die biologische Reife. Letztere stellt sich meist von selbst ein, während die geistige, nicht nur intellektuelle und seelische Reife, sich nur durch aktives Tun des Menschen selbst einstellt. Auch ist der Prozess nie abgeschlossen, sondern die Entwicklung läuft über das ganze Leben hindurch ab. Jedoch kommt es sehr oft vor, dass ein Mensch auf einem bestimmten Niveau über lange Zeit, wenn nicht sogar sein ganzes Leben lang, verbleibt. So kann es geschehen, dass ein Mensch im mittleren Alter immer noch ein kindliches Glaubensbild in sich trägt. Kein Wunder, dass es Menschen gibt, die daraus ableiten, dass Glauben überhaupt etwas Kindisches sei. In Wahrheit könnte jedoch nichts ferner liegen, denn der reife Glaube unterscheidet sich vom noch nicht gereiften Glauben, wie eine Eichel von einer ausgewachsenen Eiche. Der Glaube eines kleinen Kindes unterscheidet sich von dem der Jugend, des mittleren Alters und des Alters ganz erheblich. Ich möchte dies am Vergleich von zwei Gedichten zeigen, die Johann Wolfgang von Goethe geschrieben hat: „Prometheus“ und „Grenzen der Menschheit“

Prometheus
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;
Musst mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus noch ein,
Kehrt ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär’
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängstigten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blütenträume reiften?
Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!

Grenzen der Menschheit
Wenn der uralte,
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
Segnende Blitze
Über die Erde sät
Küss ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust.
Denn mit Göttern
Soll sich nicht messen
Irgendein Mensch.
Hebt er sich aufwärts
Und berührt
Mit dem Scheitel die Sterne,
Nirgends haften dann
Die unsichern Sohlen,
Und mit ihm spielen
Wolken und Winde.
Steht er mit festen,
Markigen Knochen
Auf der wohl gegründeten
Dauernden Erde,
Reicht er nicht auf,
Nur mit der Eiche
Oder der Rebe
Sich zu vergleichen.
Was unterscheidet
Götter von Menschen?
Dass viele Wellen
Vor jenen wandeln,
Ein ewiger Strom:
Uns hebt die Welle,
Verschlingt die Welle,
Und wir versinken.
Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sie dauernd,
An ihres Daseins
Unendliche Kette.

Es ist klar erkennbar, dass beide nicht denselben Geist, dieselbe Glaubenseinstellung ausdrücken. „Prometheus“ deutet auf einen „Stürmer und Dränger“ hin, eine jugendhafte Person, der es eine Zumutung zu sein schein, einen Gott über sich zu haben, die glaubt im Grunde mit wachem Verstand alles selbst in die Hand nehmen zu können. Wozu dann Gott? Von dieser Ablehnung gegen Gott, ist es nur ein kleiner Schritt zum Atheismus. Mag sein, dass Frust zu dieser Auffassung führt, mag sein, dass Gott nicht als gut, sondern als Tyrann aufgefasst wird. Ablehnung oder Leugnung Gottes, beides ist einem jedenfalls Recht. Prometheus zeigt sehr gut die Rebellion des (vor allem jungen) Menschen gegen einen Gott, gegen jemanden, dem man gegenüber verantwortlich ist, auch wenn man allen Menschen entkommen ist. Dass am Ende Rechenschaft über alles abzulegen ist, das erscheint untragbar. Das zweite Gedicht hingegen zeigt den reifen Glauben eines Menschen mit Lebenserfahrung, der wahrscheinlich viel durchgestanden hat und der endlich zur wahren Einsicht gelangt ist. Meist sind Menschen, die die Einstellungen von „Grenzen der Menschheit“ gewonnen haben auch die „Prometheuseinstellung“ gegangen und haben sie irgendwann hinter sich gelassen. Großer Zweifel ist nichts Schlechtes, im Gegenteil, gerade daraus kann der reife Glauben entspringen. Es zeigt, dass ein Mensch sehr in die Sache des Glaubens involviert ist. Vom durchdachten Atheismus zum echten Glauben ist es oft nur ein kleiner Sprung. Was es dazu braucht? Die Fairness und die Demut des Atheisten nun auch seine Zweifel anzuzweifeln. Der Atheist, der auch seinen Atheismus anzuzweifeln vermag, der kann diesen Entwicklungsschritt machen. Wenn es um Glauben geht, herrschen oft falsche Vorstellungen vor, die sich aus einem schlampigen Gebrauch des Wortes „glauben“ ergeben. So sagt einer zum Beispiel: „Ich glaube die Hauptstadt von Nicaragua ist Managua.“ Sagt er aber hingegen: „Ich weiß die Hauptstadt von Nicaragua ist Managua“, so ist das nicht dasselbe. Im zweiten Fall sprechen wir von wissen, im ersteren von „nur“ glauben. Glauben wird damit zu einer Restgröße für das Nichtwissen, die wir aber trotzdem für wahr halten. So gesehen, ist es leicht verständlich, den Glauben geringer zu schätzen. Wahrer Glaube hat aber damit nichts zu tun. Er entspringt sehr wohl auch dem Verstand, aber er geht darüber hinaus, da er das Gefühl, das Wollen und überhaupt das ganze Wesen des Menschen miteinschließt. Glauben ist das Ganzheitlichste, was es überhaupt gibt, er ist. Wahrer Glaube ist nicht nur eine Gewissheit, sondern sogar eine Übergewissheit. Zu glauben ist nicht nur vernünftig, es ist übervernünftig. Jeder weiß, dass die Wurzel aus 25 5 ist. Für den Gläubigen ist die Gewissheit, dass es Gott gibt, mindestens so stark wie die eben genannte Gewissheit. Sicher, der Nicht-Gläubige kann sich nicht wirklich vorstellen, wie einer zum Glauben kommt (mag er sich auch noch so viele Erklärungen zurecht legen). Doch er kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn man ihm ein Beispiel nennt, so wie ich es oben mit der Wurzel aus 25 gemacht habe. Ich wünsche allen noch einen schönen Sonntag und gutes Gelingen in der nächsten Arbeitswoche.

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