Sonntag, 11. April 2010

Unsere Muster im Kopf

Bevor dieser Artikel beginnt, möchte ich Ihnen eine kleine Aufgabe stellen. Nehmen Sie ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand und zeichnen Sie ein Dreieck mit vier Strichen. Die Lösung für dieses Rätsel finden sie am Ende dieses Texts. Sehen Sie dort erst nach, nachdem Sie alles gelesen haben, es sei denn, Sie wollen sich selbst um eine Überraschung bringen.

Es ist eine Eigenart des menschlichen Geistes, dass er Unvollständiges nicht oder nur schwer akzeptieren kann. Wann immer Informationen bruchstückhaft sind und sich ein gesamtes Bild nicht aus den zur Verfügung stehenden Teilen zusammensetzen lässt, dann vervollständigt der Geist die Fragmente zu einem Ganzen. Was an sich noch nicht weiter problematisch wäre, wenn des Menschen Bewusstsein sich darüber im Klaren wäre, dass es dieser Vorgang ist, der in seinem Geist abläuft. Doch in den meisten Fällen ist dem nicht so. Der Mensch nimmt einerseits über seine Sinnesorgane eine Unmenge an Informationen auf, die jedoch nur zum geringsten Teil integriert werden. Die allermeisten Informationen wandern am Bewusstsein vorbei in dunklere Bereiche des Geistes. Aus den wenigen Teilen, die ins Bewusstsein gelangen, wird dann ein Bild geschaffen, das die betreffende Person als „wahr“ ansieht. Man spricht ja im Deutschen auch von „Wahr-Nehmung“. Was in unser Bewusstsein gelangt ist dass, was wir für „wahr“ halten. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass das, was wahrgenommen wird, nicht unbedingt etwas damit zu tun haben muss, was tatsächlich wahr ist.

Zusätzlich zu dieser Erkenntnis muss auch berücksichtigt werden, dass unsere Wahrnehmung der Umwelt, und auch von uns selbst, niemals die tatsächliche Gegenwart repräsentiert, selbst dann nicht, wenn es möglich wäre alle eingehenden Informationen dem Bewusstsein zugänglich zu machen. Zwischen den Ereignissen in der Welt, dem Eingang in die Sinnesorgane, und der bewussten Wahrnehmung, vergeht immer Zeit und sei sie auch noch so gering. Immer erhalten wir ein Abbild, niemals die tatsächlichen Gegenwart.

Betrachtet man das obige Bild, mit dem dieser Artikel beginnt, so sehen wir einen oberen Teil, den wir sogleich als zwei Figuren erkennen, die wir als symbolische Darstellungen (Strichmännchen) eines Mannes und einer Frau erkennen. Im unteren Bild dagegen herrscht das blanke Chaos vor. Wir sehen Linien, die in bestimmten Winkeln zueinander stehen und dazu zwei Kreise. In beiden Bildern ist die Information genau die gleiche, aber durch die spezielle Anordnung im oberen Teil des Schaubildes, ergeben sich für unser Gehirn zwei Figuren, die wir erkennen und benennen können.

Dies ist ein amüsantes Beispiel, aber die Auswirkungen im täglichen Leben sind enorm. Wir glauben etwas gesehen oder gehört zu haben, was mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Mit Wahrnehmung ist immer auch Täuschung verbunden. Man sollte sich immer fragen, ob man sich ganz sicher sein kann, oder ob man nicht einfach sieht, was man sehen möchte oder wozu man aufgrund vergangener Prägungen prädestiniert ist. In diesem Fall gibt uns die Welt keine wirklichen Informationen, sondern spiegelt nur unsere eigenen Gedanken wider. Wir glauben nur fälschlicherweise, dass die Welt so sei, wie wir sie sehen und vergessen, dass wir zuerst etwas hinein getan haben, das wir im Nachhinein herauslesen wollen. Wir interpretieren nach unserem Willen und nach nichts anderem. Doch meist sind wir uns dessen nicht bewusst, wir schwören Stein und Bein, nicht einer Täuschung zu unterliegen. Es geht hier auch nicht darum, dass jemand wissentlich falsche Informationen weitergibt, sondern dass jemand das sagt, was er allen Ernstes für richtig hält. Ein gutes Beispiel dafür sind Zeugenaussagen bei Verkehrsunfällen. Hat man fünf Zeugen, erhält man auch fünf verschiedene Aussagen, wobei jeder Zeuge von seiner eigenen Ehrlichkeit überzeugt ist und dazu auch jeden Eid zu schwören bereit wäre.

Wir können dem Ganzen nur dadurch entgegen wirken, dass wir uns der Fehlbarkeit bewusst sind und unsere eigenen Motive laufend hinterfragen. Können wir wirklich sicher sein, dass wir die Welt klar sehen können? Welche Motive veranlassen mich eine Sache so oder eben nicht so zu sehen? Philosophen haben schon vor langer Zeit erkannt, dass zwischen der Wahrnehmung und der Welt als Entität (man verzeihe mir den Gebrauch in diesem Zusammenhang) eine Kluft besteht. Die Frage war nicht, ob eine solche Kluft besteht, sondern wie groß sie sei. Daraus ergeben sich ewige Streitereien darüber, ob wir der Wirklichkeit sehr nahe kommen, oder ob wir mehr oder weniger wie Blinde durch ein Universum wandern, von dem wir im Grund nicht nur nichts wissen, sondern gar nicht in der Lage sind, überhaupt je etwas tatsächlich Existierendes zu erkennen. Doch das ist ein anderes Thema. Die Schulweisheit mag uns viele Dinge wahr machen wollen, doch wenn wir uns auf das Leben in seiner ganzen Breite einzulassen vermögen, dann erkennen wir, dass sie nicht den geringsten Teil der Wirklichkeit uns zu vermitteln vermag.
Hier noch die Auflösung des Rätsels von oben. Die meisten werden vergeblich versucht haben ein Dreieck aus vier Linien herzustellen. Dies ist freilich unmöglich und wer so denkt, kann das Rätsel auch nicht erfolgreich lösen. Beachtet man aber die gegebene Anweisung genauer, so sieht man, dass keine Rede davon war ein Dreieck aus vier Linien zu konstruieren, sondern, dass ein Dreieck mit vier Linien zu zeichnen war. Unser Verstand hat hier ganz selbstverständlich ersteres angenommen. So gerät man sehr leicht in die Falle, in eine Sache etwas hinein zu interpretieren, was da überhaupt nicht gestanden hat.

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