Dienstag, 13. April 2010

Über die Gefahren des Lesens

Lesen so meint man allgemein, sei eine höchst wünschenswerte Tätigkeit des Menschen. Es wird oft bedauert, dass die Leute heutzutage nicht mehr läsen, dass die sprachliche Ausdrucksfähigkeit nicht mehr das sei, was man früher, auch unter einfacherem Volk, antreffen konnte und dass insbesondere bei der Jugend neuere Medien wie Fernsehen, Internet und Videospiele Vorragen vor dem guten alten Buch genössen. Was soll also gefährlich daran sein zu lesen? Die Gefahren des Lesens sind zweierlei. Einerseits geht es um den Inhalt der Lektüre. Dies ist offensichtlich und historisch auch der Ursprung des Begriffs „Lesesucht“, der zum ersten Mal 1773 im Werk „Briefe über die Erziehung von Frauenzimmern“ von Rudolf Heinrich Zobel, gebraucht wurde. Man hielt lange Zeit vor allem Frauen und Jugendliche als gefährdet der Literatur zu verfallen und deshalb in der Folge ihre Pflichten im Leben zu vernachlässigen. Zudem hielt man viele politische, philosophische und träumerische Bücher für gefährlich, da sie den Geist vergifteten und unerwünschte Gedanken in die Köpfen einimpfen würden. Als dann 1774 Goethes „Leiden des jungen Werther“ erschien und einige Leute in romantische Melancholie (mit anschließendem Selbstmord) versetzte, kam die Diskussion um die Gefahren des Lesens so richtig auf. Im 19. Jahrhundert war es dann insbesondere die erotische Literatur, die als zutiefst verderbt angesehen wurde und kein anständiges Frauenzimmer sollte sich derartigem „Schund“ hingeben.

Wovon hier aber die Rede sein soll ist die zweite Art der Gefahren durch das Lesen, nämlich die allgemeine Gefahr das Leben nur durch Bücher zu erfahren. Dadurch wird das Lesen zu einer Art Hindernis zwischen dem Studierenden und der „wahren“ Welt. Denn allzu oft hat der „Gelehrte“ nichts weiter vorzubringen als darauf zu verweisen, er habe etwas in einem Buch gelesen und der Autor würde schon wissen, was er schriebe. Da gibt es etwa die Prognosen über die Zukunft, etwa welche Erfindungen noch gemacht werden würden, man würde sicher in fünfzig Jahren auf dem Mars Trabantenstädte errichten und dergleichen. Doch wenn der Leser dann erklären soll, wie das genau vonstatten gehen soll, dann weiß er darauf auch nichts anderes zu sagen, als er habe es in einem Buch gelesen und er Autor sei ein anerkannter Zukunftsforscher, deshalb könne man ihm wohl glauben. Der Lesende ist dann oft überrascht oder gar erzürnt, dass die Mitmenschen, denen Lesen nicht so am Herzen liegt wie ihm, ihm keinen Glauben schenken oder sich gar über ihn lustig machen. Da ist es nur ein Schritt, dass man sich selbst als überlegen betrachtet und die anderen als dumme Tölpel ansieht, denen die Bildung völlig abginge. Würde der Leser einmal ernsthaft in den Spiegel schauen, dann käme er schon drauf, dass es mit seinem Wissen auch nicht weit her ist, es ist ja nicht durch sein eigenes Denken entstanden, sondern ist im Grunde nichts anderes als ein papageienhaftes Nachplappern dessen, was ein vermeintlich großer anderer geschrieben hat. Es gilt eben immer noch das alte Sprichwort von der Macht des geschriebenen Wortes. Sagt man einen Unsinn, so lacht die Welt, doch schreibt man ihn nieder, dann glaubt sie, dass es damit wohl etwas mehr mit der Wahrheit auf sich hat. Auf der anderen Seite gibt es ja auch das Sprichwort, dass Papier geduldig sei. Und nie traf dies mehr zu als in unserer Zeit, in der jeder auf Papier, oder noch mehr in elektronischer Form, sein geschriebenes Wort in die Welt hinausposaunen kann, ob es den anderen nun gefällt oder nicht und völlig einerlei von der Qualität des Geschriebenen.

Einen solchen Charakter entdeckte ich im Roman „Sonderlinge“ des Bregenzerwälder Schriftsteller Franz Michael Felder (1839-1869). Der Sohn einen reichen Bauern wird von seinem Vater dazu erzogen zu studieren und sich von der Welt zurückzuziehen und auf die einfachen dummen Bauern zu schimpfen, die ja ohnehin nichts im Kopf hätten, deren Sitten völlig verroht seien und deshalb keinen Umgang für den Junior seinen. Der Sohn wird zum „Sonderling“, der zwar viel weiß, aber eben alles nur aus den Büchern, einer, den „die schwarzen Leute in der Ferne mehr interessieren, als den Nachbarn und dessen Hof“. Die große Wandlung kommt dann, als der freundlose, unglückliche Sohn doch einmal sich entschließt unter die Menschen zu gehen und als „Küher“ (Kuhhirte auf der Alp) einen Sommer lang mit einem Beiknecht und dem Senn selbst die Kühle des Ortes auf der Alp zu hüten und dort zu leben. Der Senn bringt den verwöhnen Stubenhocker in Verbindung mit der Natur und indirekt auch mit den Menschen, und als der September kommt und die Kühe wieder in den Ort hinabgetrieben werden, ist der „Sonderling“ schon ein anderer Mensch geworden, wenn es auch noch eine harte Zeit werden sollte in den folgenden Monaten, da die sozialen Künste nun erst recht auf die Probe gestellt werden.

Diese Geschichte erscheint mir ein Paradebeispiel dafür zu sein, was passieren kann, wenn man Bücher nicht deshalb liest, weil man eine bestimmte Information braucht, sondern um seine Zeit totzuschlagen und einen Wall zwischen sich und der lebendigen Erfahrung zu errichten. Lesen kann zur Sucht werden, wie auch der Alkohol oder die Spiel- und Einkaufssucht. Die schädlichen Folgen werden meist nicht erkannt, eben weil das Lesen in hohem Ansehen steht und allgemein als akzeptable, wenn nicht gar erwünschte Freizeitbeschäftigung gesehen wird. Aber Lesen kann einen sehr einsam machen. Wissen kann durchaus durch Bücher vermittelt werden, wenn eigenes Denken sich der Informationen bedient und das eigene Urteilsvermögen geschärft wird. Doch niemals kann das Lesen die tatsächliche Erfahrung ersetzten und am allerwenigsten kann das Lesen einem Weisheit verleihen, dazu ist nur das Leben selbst in der Lage.

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