Sonntag, 6. September 2009

Die Illusion der Autonomie

Der Mensch ist seinem Potenzial gemäß das freieste aller Wesen (zumindest, der uns bekannten). Doch besteht eine seiner frühesten Entscheidungen gerade darin sich diese Freiheit zu versagen und sich allerlei Beschränkungen aufzuerlegen. Es hat schon etwas Komisches an sich, dass ein großartiges Wesen mit unglaublichem Potenzial, sich vormacht klein und unbedeutend zu sein, bis am Ende ein lächerlicher Abklatsch dessen herauskommt, was es sein könnte. Das Ergebnis ist der angepasste, gemeine Mensch von heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die inner Freiheit ist viel geringen, als in früheren Jahrhunderten. Aber gerade in dieser Einschätzung liegt das Paradoxon. Denn gerade die Fähigkeit sich klar zu machen und sich die Bedeutung abzusprechen, zeigt die wahre Macht des Menschen. Wir können uns sogar keiner machen, als wir sind! Ist das nicht gerade ein Zeichen unglaublicher Macht?
Worin liegt nun der Ursprung all dessen? Die Antwort ist einfach: In der Kindheit, in den ersten sechs bis sieben Lebensjahren. „Gebt mir ein Kind bis zum siebenten Lebensjahr, dann ich gebe euch den Mann/die Frau zurück!“, hieß es bei den Jesuiten. Diese Aussage ist nun wahrhaft mehr als wahr. In dieser frühen Kindeszeit legt der Mensch sein ganzes Leben fest. Alle wichtigen Entscheidungen werden wie in einem Drehbuch geplant: Ob man ein Gewinner oder Verlierer sein wird, oder wie die meisten Menschen, weder das eine noch das andere, also ein Nichtgewinner. Wen man heiraten wird. Ob man krank oder gesund sein wird. Welchen Beruf man haben wird und wie und wann man sterben wird. All diese Dinge hat ein siebenjähriges Kind bereits festgelegt. Der Rest des Lebens dient größtenteils nur noch dazu das Drehbuch auszuführen, sprich die Rolle zu spielen, die man sich selbst zurechtgemacht hat und sein Leben mit Menschen zu verbringen, die die anderen Rollen im Drehbuch spielen. Hat jemand zum Beispiel die Rolle des Opfers inne, so wird er im Leben immer wieder auf Leute stoßen, die die Rolle des Täters spielen. Beide sind sich nicht bewusst, dass sei ein Spiel spielen. Und so kann das Opfer dann auch sagen: „Warum muss das immer mir geschehen?!“, genau so, wie es seiner Rolle entspricht. Die wenigsten Menschen wissen über diese Zusammenhänge und deshalb erscheint das Leben auf dieser Welt auch so real. Tatsächlich gibt es aber nur wenige Menschen, die wirklich real in ihrem Verhalten sind. Das sind diejenigen, die sich aus ihrem Drehbuch befreien konnten, oder in den allerwenigsten Fällen, niemals ein solches erschufen.
Das Tragische bei dieser Sache ist es, dass diese Entscheidung über das Drehbuch von einem Wesen getroffen wird, das noch nicht die Einsichtsfähigkeit besitzt, um die Tragweite dieser Entscheidung absehen zu können. Aber, und das muss immer festgehalten werden, die Entscheidung wird frei getroffen, von einem kleine Kind allerdings. Wahrlich, das ist eine Ironie der Schöpfung, dass wir unsere Freiheit gleich einmal an die ersten Sklavenhalter verlieren: unsere Eltern. Dann folgen andere, wie Lehrer, Politiker, abstrakte Gebilde wie Staat oder Gesellschaft, Arbeitgeber und so weiter. Das ist die Art, wie die meisten Menschen ihr Dasein zubringen, bis sie über den Jordan gehen.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie die Befreiung aus dem Drehbuch geschehen kann. Einerseits kann es sich dabei um äußere Umstände handeln, wie Krieg, Katastrophen, Unfälle und dergleichen. Zum zweiten gibt es die selten angewandte Möglichkeit der Introspektion. Darunter fallen auch diverse Techniken der Selbstheilung. Viele moderne Strömungen der Esoterik und das, was unter dem Begriff „Selbsthilfe“ angeboten wird, gehören ebenso zu diesen. Leider sind die wenigsten davon erfolgreich. Dazu ist ein hohes Maß an Dissoziation nötig, welches nur die wenigsten aufbringen können. Sich selbst objektiv zu sehen ist unglaublich schwer. Meist sieht man nämlich das, was mit einem nicht stimmt, also eine Geistestrübung, genau durch diese Trübung selbst. Trotzdem ist es auf diese Art nicht unmöglich frei zu werden. Vor allem Meditation über die wahre Natur des Geistes, die Leerheit aller Dinge, ist in diesem Bereich zu, Ziel führend. Der Mensch erkennt nämlich, dass er und die Gedanken nicht eins sind, ebenso wie die Gefühle. In der westlichen Welt gehen immer noch viele Menschen von Descartes Grundsatz „Cogito ergot sum“ aus, aber gerade darin liegt ein großer Fehler. Unsere ganze Kultur hat diese falsche Abzweigung vor paar Jahrhunderte genommen und ging sie bisher weiter entlang. Der Mensch ist nicht seine Gedanken. Sei genauso kritisch gegenüber deinem eigenen Geist, wie gegenüber den Aussagen anderer. Wir glauben ja auch nicht einfach was andere Menschen sagen, aber was unser Gehirn uns sagt, glauben wir meist ohne uns dessen bewusst zu sein. Als ob das Gehirn die Wahrheit spräche. Das tut es eben oft nicht, es plappert genauso daher, wie die Menschen in der Welt. Aber, wenn einem klar ist, dass das Gehirn nicht der Mensch ist, ebenso wenig, wie seine Produkte, dann wird es leichter objektiv zu sein.
Die dritte Möglichkeit der Befreiung geschieht über das was, unter Psychotherapie bekannt ist. Dazu möchte ich noch etwas anmerken, was doch deutlich auffällt. Psychiater sind die einzigen Fachmediziner, die sich das Organ, das sie behandeln nie ansehen. Psychiater behandeln die Patienten und ein Großteil ihrer Arbeit besteht danach aus bloßem Raten. Und oft raten sie einfach falsch. Die Fehlerquote ließe sich enorm einschränken, wenn von jedem Patienten vor der Therapie ein Scan seiner Hirntätigkeit durchgeführt würde. Möglicherweise handelt es sich bei psychischen Schwierigkeiten gar nicht um ein Softwareproblem, also etwas, das in der Bereich der Psychotherapie fällt, sondern um ein Hardwareproblem (das Gehirn selbst). Manche Bereiche des Gehirns arbeiten auf zu hohen Touren, andere auf zu niedrigen. Oft muss man den einen Bereich dämpfen und den anderen in seiner Aktivität anheben. Erst dann kann entschieden werden, ob noch an der Software gearbeitet werden muss oder nicht.